Reform der Pflegeversicherung – Grundlagen, Pläne, Kosten und Leistungen
Die Pflegeversicherung steht unter Druck. Angesichts einer alternden Gesellschaft, steigender Kosten und wachsender Belastung für Pflegebedürftige und Angehörige fordern Expertinnen und Experten seit Jahren eine tiefgreifende Reform.
Im Jahr 2025 beziehen in Deutschland rund 5,6 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung – Tendenz weiter steigend. Die Bundesregierung hat inzwischen erste Maßnahmen auf den Weg gebracht. Doch die zentrale Frage bleibt: Wer soll das bezahlen?
Grundlagen der Pflegeversicherung
Die soziale Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihr Ziel ist es, das Risiko der Pflegebedürftigkeit finanziell abzusichern – allerdings nicht vollständig. Das sogenannte Teilkaskoprinzip bedeutet, dass die Versicherung nur einen Teil der Kosten übernimmt. Der Rest muss durch Eigenanteile, Angehörige oder zusätzliche private Vorsorge getragen werden.
Die Beitragssätze liegen seit Januar 2025 bei 3,6 % (bzw. 4,2 % für Kinderlose). Diese werden je zur Hälfte von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen getragen. Leistungen umfassen unter anderem Pflegegeld für häusliche Pflege, Pflegesachleistungen, Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie Unterstützung bei der stationären Unterbringung. Die Leistungen orientieren sich an den fünf Pflegegraden, wobei höhere Pflegegrade deutlich höhere Unterstützungsbedarfe bedeuten.
Aktuelle Situation und Finanzdruck
Die finanzielle Lage der Pflegeversicherung ist angespannt. Für 2025 wird ein Defizit von 1,6 Milliarden Euro erwartet, für 2026 sogar 3,5 Milliarden Euro. Ursachen sind vielfältig: Demografischer Wandel, steigende Gehälter in der Pflegebranche, mehr Pflegebedürftige und strukturelle Defizite im Finanzierungssystem. Besonders kritisch ist der Umstand, dass versicherungsfremde Leistungen – also Leistungen, die nicht direkt dem Versichertenkollektiv dienen – bislang nicht durch Steuermittel kompensiert werden.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach mahnte bereits Ende 2024, dass ohne grundlegende Reformen ein „Finanzkollaps“ der Pflege drohe. Ähnlich äußerte sich die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Claudia Moll (SPD): „Wir fahren auf Verschleiß. Die Leistungen steigen, aber die Einnahmen bleiben nicht im gleichen Maße konstant.“
Reformpläne der Bundesregierung
Die Ampelregierung reagiert zunächst mit kurzfristiger Hilfe: Für die Jahre 2025 und 2026 sollen der Pflegeversicherung Darlehen in Höhe von 0,5 bzw. 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden – eine Notmaßnahme, um die Zahlungsfähigkeit zu sichern. Die Rückzahlung ist ab 2029 geplant.
Langfristig wurde im Juni 2025 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter dem Titel „Zukunftspakt Pflege“ ins Leben gerufen. Bis Ende 2025 soll ein umfassendes Konzept vorliegen, Anfang 2026 ein Gesetzentwurf folgen. Im Fokus stehen mehrere Reformbereiche:
- Pflegegeld als Lohnersatz: Angehörige, die pflegen, sollen einen finanziellen Ausgleich erhalten. Das Modell orientiert sich teilweise am Elterngeld.
- Pflegekompetenzgesetz: Pflegefachkräfte sollen mehr Verantwortung übernehmen dürfen – etwa in Diagnostik oder Therapieplanung.
- Kombibudget: Ab Juli 2025 werden Kurzzeit- und Verhinderungspflege in einem einheitlichen Budget (3.539 €/Jahr) zusammengeführt. Ziel ist mehr Flexibilität.
- Individuelle Budgets: Der Verband der Privaten Krankenversicherungen (PKV) schlägt ein System vor, bei dem Versicherte ein pauschales Jahresbudget erhalten, das sie flexibel einsetzen können – ein Ansatz, der Bürokratie abbauen und Eigenverantwortung fördern soll.
Finanzierung – Wer zahlt?
Die Gretchenfrage der Reform lautet: Wer trägt die Kosten? Der Vorschlag, die Beitragssätze weiter zu erhöhen, ist politisch umstritten. Eine Erhöhung um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte steht im Raum – das würde rund 7 Milliarden Euro mehr einbringen. Arbeitgeberverbände warnen jedoch vor einer einseitigen Belastung der Beitragszahler:innen.
Daher fordern viele eine stärkere Beteiligung des Bundes über Steuermittel, vor allem für versicherungsfremde Leistungen. Die Arbeitgeberseite bringt zusätzlich radikalere Ideen ins Spiel: etwa eine Karenzzeit, in der Pflegeleistungen erst nach einigen Monaten greifen – ähnlich wie beim Krankengeld –, oder eine stärkere Beteiligung der Bundesländer. Laut Berechnungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ließen sich damit bis zu 16 Milliarden Euro jährlich einsparen.
„Wer Leistungen ausweitet, muss auch sagen, wer sie bezahlt. Sonst ist jede Reform Augenwischerei.“ – Uwe Vorkötter, t-online-Kommentator
Kosten und Leistungen im Detail
Ab Januar 2025 wurden die Leistungen in mehreren Bereichen um 4,5 % erhöht. Dies betrifft:
- Pflegegeld für häusliche Pflege (z. B. Pflegegrad 3: von 545 € auf 570 €)
- Pflegesachleistungen durch ambulante Dienste (z. B. Pflegegrad 4: von 1.612 € auf 1.685 €)
- Entlastungsbeitrag für zusätzliche Hilfen (bleibt bei 125 €, wurde aber flexibilisiert)
- Verbrauchshilfen wie Inkontinenzmaterialien (monatlich bis zu 40 €)
Im stationären Bereich wurden ebenfalls Anpassungen vorgenommen. Die Eigenanteile in Pflegeheimen bleiben jedoch hoch: Trotz Leistungszuschüssen zahlen Pflegebedürftige im Durchschnitt monatlich 2.248 € selbst – Tendenz steigend. Ein Beispiel: Frau H., 84 Jahre alt, lebt seit 2022 im Pflegeheim. Trotz Pflegegrad 4 und Zuschüssen zahlt sie 2.140 € monatlich – fast ihre gesamte Rente.
Diskussion und Kontroversen
Sozialverbände fordern eine Abkehr vom Teilkaskoprinzip hin zu einer echten Vollversicherung – ähnlich wie bei der Krankenversicherung. Kritiker halten dagegen: Eine solche Umstellung wäre teuer und politisch schwer durchzusetzen. Die Pflegeversicherung sei nie als „Rundum-sorglos-Paket“ gedacht gewesen, heißt es etwa aus dem Gesundheitsministerium.
Andere verweisen auf die wachsende Kluft zwischen gesetzlich und privat Versicherten. In der privaten Pflegepflichtversicherung sind die Beitragssätze oft deutlich niedriger – bei zugleich besseren Leistungen. Auch das Thema Kapitaldeckung spielt in der Debatte eine Rolle: Während die gesetzliche Pflegeversicherung im Umlageverfahren arbeitet, verfügen die privaten Anbieter über milliardenschwere Rücklagen.
Ausblick
Die angekündigte Strukturreform ab 2026 soll mehr sein als nur ein Flickenteppich. Der politische Wille zu einem großen Wurf ist vorhanden – doch das Konsensfindungsverfahren zwischen Bund, Ländern, Sozialverbänden und Kassen ist schwierig. Ob der Zukunftspakt Pflege tatsächlich ein neues Kapitel aufschlägt oder in der bürokratischen Realität versandet, bleibt abzuwarten.
Positiv ist: Pflegekräfte, Angehörige und Betroffene werden zunehmend in den Reformprozess eingebunden. Auch Modellprojekte mit kommunaler Pflegekoordination und digitaler Pflegeplanung stoßen auf Interesse. Ein durchdachtes Zusammenspiel von persönlicher, familiärer und institutioneller Pflege könnte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Lösung sein.
Überfällige Reform
Die Reform der Pflegeversicherung ist überfällig. Ohne grundlegende Strukturänderungen drohen steigende Belastungen für Versicherte und ein weiteres Auseinanderklaffen von Bedarf und Leistung. Der demografische Wandel zwingt die Politik zum Handeln – nicht irgendwann, sondern jetzt.
Die Herausforderungen sind gewaltig: Finanzierung sichern, Leistungen bedarfsgerecht gestalten, Angehörige entlasten, Pflegeberufe stärken. Gleichzeitig müssen die Lösungen solidarisch, fair und generationengerecht sein. Ob der Zukunftspakt Pflege diesen Spagat schafft, wird sich ab 2026 zeigen.
„Pflege darf nicht zur Armutsfalle werden – für niemanden.“ – Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung