Pflegeversicherung vor der Reform – Warum ein Zukunftspakt dringend notwendig ist
Die Pflegeversicherung steht vor einer tiefgreifenden Zäsur. Jahrzehntelang galt sie als verlässlicher Eckpfeiler der sozialen Sicherung in Deutschland. Doch mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft, steigenden Pflegekosten und einem sich verschärfenden Fachkräftemangel gerät das System immer stärker unter Druck.
Bereits heute reicht das Beitragsaufkommen nicht mehr aus, um die Leistungen der Pflegeversicherung dauerhaft zu finanzieren. Der Bundesrechnungshof schlägt Alarm, Krankenkassen warnen vor Rekorddefiziten, und politisch wird der Ruf nach einer umfassenden Reform lauter denn je.
„Am Ende werden nicht nur positive Nachrichten verkündet“, sagte die Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Katrin Staffler (CSU), im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Ein Satz, der die Dringlichkeit unterstreicht – und die Unbequemlichkeit, die mit grundlegenden Strukturveränderungen einhergehen könnte.
Status quo der Pflegefinanzen
Aktuell liegt der Beitragssatz zur Pflegeversicherung bei 3,6 % – je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen. Für Kinderlose kommt ein Zuschlag von 0,6 % hinzu, der ab 2025 greift. Die Leistungen wurden zuletzt im Januar 2025 um 4,5 % erhöht. Zum Juli 2025 wird auch das Entlastungsbudget neu strukturiert: Die Kurzzeit- und Verhinderungspflege werden in einem gemeinsamen Jahresbudget von bis zu 3.539 Euro zusammengefasst. Diese Reform ist ein erster Schritt zur Vereinfachung der Bürokratie und zur besseren Planungssicherheit für pflegende Angehörige.
Trotz dieser Maßnahmen bleibt die Finanzierung auf tönernen Füßen. Die Pflegeversicherung war nie als Vollversicherung gedacht – Angehörige müssen ohnehin oft erheblich zuzahlen. Doch nun verschärft sich das Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben dramatisch. Eine große Pflegereform, die diesen Herausforderungen begegnet, lässt auf sich warten.
Finanzielle Engpässe & Warnsignale
Der Bundesrechnungshof prognostiziert ein Defizit von bis zu 12,3 Milliarden Euro bis zum Jahr 2029, sollte das System nicht grundlegend verändert werden. Die DAK Gesundheit, eine der größten deutschen Krankenkassen, rechnet bereits für 2025 mit einem Minus von 1,65 Milliarden Euro – 2026 könnte sich dieses Defizit auf 3,5 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. „Wir brauchen einen mutigen Kurswechsel“, forderte ein Sprecher der DAK gegenüber WELT.
Diese Warnungen sind nicht neu – doch der politische Umgang damit bleibt zurückhaltend. In der Vergangenheit wurden Defizite oft mit kurzfristigen Beitragsanpassungen oder Steuerzuschüssen abgefedert. Doch das kann keine Dauerlösung sein. Experten sind sich einig: Ohne strukturelle Reformen wird das System kollabieren.
Politische Maßnahmen & Akteure
Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) setzt auf einen Zukunftspakt Pflege. Gemeinsam mit den Ländern wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die bis Ende 2025 Eckpunkte für eine grundlegende Reform vorlegen soll. „Es geht nicht um kosmetische Korrekturen, sondern um eine nachhaltige Neuausrichtung“, betonte Warken in einer Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums.
Als kurzfristige Maßnahme plant das Ministerium Kredite in Höhe von 500 Millionen Euro für 2025 und 1,5 Milliarden Euro für 2026 – mit Rückzahlungspflicht ab 2029. Die Ministerin hofft damit, Zeit für eine tragfähige Strukturreform zu gewinnen.
Pflegebeauftragte Katrin Staffler hält diese Lösung für unzureichend. Sie fordert zusätzliche Steuerzuschüsse, um die Pflegeversicherung dauerhaft zu stabilisieren. „Die Corona-Pandemie, die generalistische Pflegeausbildung und andere gesamtgesellschaftliche Aufgaben wurden über die Pflegekassen abgerechnet. Das kostet jedes Jahr über sechs Milliarden Euro – und gehört eigentlich vom Bund übernommen“, kritisierte Staffler im RND-Interview.
Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) meldet sich zu Wort – mit radikalen Vorschlägen. Unter anderem wird eine Karenzzeit im ersten Pflegejahr vorgeschlagen, in der die Pflegeversicherung keine Leistungen übernimmt. Dadurch sollen jährlich bis zu sechs Milliarden Euro eingespart werden. Zudem plädiert die BDA für einen sogenannten „Nachhaltigkeitsfaktor“, wie er aus der Rentenversicherung bekannt ist. Dieser soll die Ausgaben an die Einnahmen koppeln und so für mehr Planungssicherheit sorgen.
Geplante und diskutierte Reformoptionen
Zu den zentralen Ideen der Reformdebatte gehört der Ausbau häuslicher Pflegeleistungen. Pflegende Angehörige sollen stärker unterstützt werden – sowohl finanziell als auch organisatorisch. Eine Option ist, das Pflegegeld künftig als Lohnersatz zu gestalten, um Erwerbsunterbrechungen besser aufzufangen.
Darüber hinaus wird diskutiert, versicherungsfremde Leistungen – wie Rentenpunkte für pflegende Angehörige – künftig aus Steuermitteln zu finanzieren. Dies könnte die Pflegekassen um Milliarden entlasten. „Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, betont Staffler. „Dann muss sie auch aus dem Bundeshaushalt mitfinanziert werden.“
Ein weiterer Reformvorschlag zielt auf die Umstellung der Systemlogik: von der bisherigen Teilkostenversicherung hin zu einer Sockel-Spitze-Regelung. Dabei zahlt die Pflegeversicherung nur einen festen Betrag – alles darüber hinaus müsste individuell organisiert werden. Dieses Modell hätte den Vorteil, Kosten transparenter und kalkulierbarer zu machen, birgt jedoch Risiken der sozialen Spaltung.
Auch Digitalisierung und Bürokratieabbau stehen im Fokus. Ein Beispiel ist die Zusammenführung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege in ein einheitliches Entlastungsbudget – ein Schritt, der als Modell für weitere Vereinfachungen gelten könnte. Durch digitale Anträge, schlankere Abrechnungsverfahren und intelligentere Steuerung von Pflegeleistungen ließen sich ebenfalls erhebliche Effizienzreserven heben.
Herausforderungen und Grenzen
Trotz der breiten Diskussion gibt es viele Hindernisse. Ein zentrales Problem: Der politische Wille hinkt der Einsicht in die Notwendigkeit oft hinterher. „Alle wissen, was getan werden müsste – aber niemand will die Kosten dafür verantworten“, klagt ein Referent aus dem Bundesgesundheitsministerium hinter vorgehaltener Hand.
Tatsächlich bleibt der Handlungsspielraum politisch eng: Weder massive Beitragserhöhungen noch drastische Leistungskürzungen sind populär. Steuerzuschüsse stoßen auf Widerstand in der Schuldenbremse-Debatte. Gleichzeitig wächst der Pflegebedarf rapide – allein durch den demografischen Wandel wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 nahezu verdoppeln.
Ein Beispiel verdeutlicht das Dilemma: Eine pflegende Tochter aus Berlin, die ihre 82-jährige Mutter betreut, berichtet, dass sie seit über einem Jahr auf eine Genehmigung für eine Pflegestufe wartet – und dabei durch das Raster aller Übergangs- und Härtefallregelungen fällt. „Ich musste meinen Job aufgeben, aber Pflegegeld bekomme ich erst, wenn die Kasse ihre Prüfung abgeschlossen hat“, sagt sie. Der Fall steht exemplarisch für eine Bürokratie, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht.
Ausblick & Fazit
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“ soll bis Ende 2025 erste Vorschläge unterbreiten. Anfang 2026 sollen diese in ein Gesetzesvorhaben münden. Bis dahin wird die Finanzierung der Pflegeversicherung durch Kredite und zusätzliche Belastungen notdürftig gesichert.
Doch das reicht nicht. Die Herausforderungen sind so groß, dass es eines echten Paradigmenwechsels bedarf. Pflege darf nicht länger als individueller Schicksalsschlag verstanden werden, sondern muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkannt und entsprechend finanziert werden. Nur mit einem Mix aus Beitragserhöhungen, Steuerzuschüssen, Systemumstellungen und einer massiven Verwaltungsreform lässt sich die Pflege zukunftsfest machen.
Die Worte der Pflegebeauftragten Staffler klingen nach: „Ich wünsche mir eine ehrliche Debatte. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, Pflege menschenwürdig zu gestalten – heute und morgen.“ Ob die Politik diesem Anspruch gerecht wird, bleibt abzuwarten.